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Faszinierende Foto-Geschichte(n): »In almost every picture #9«

Welch großes Potenzial an Geschichte(n) in den Alltagsfotografien wildfremder Amateurfotografen steckt, habe ich erstmals im vergangenen Jahr entdeckt, als ich während der Kölner Musiktriennale Jörg Hejkal und Christian Schneeberger von timecaps.net, der Bildagentur für gefundene und historische Alltagsfotografie, kennengelernt habe. Die Fotografien der Agentur stammen von Flohmärkten, Auktionen und privaten Nachlässen und sind nicht selten wahre Wundertüten, wie Christian Schneeberger mir im Interview verriet:

»Besonders wenn die Fotos kistenweise angekauft werden, ist das Ganze immer spannend. Ich weiß gar nicht wo anfangen … Das sind Schachteln voller unglaublicher und unbeschreiblicher Überraschungen: Von der strippenden Mutti bis hin zu Hassfotos eifersüchtiger Menschen, die ihren ungeliebten Bekannten die Augen oder Gesichter auf den Bildern ausgekratzt haben.«

Solch wunderbare Funde historischer Alltagsfotografie besitzt auch der niederländische Sammler Erik Kessels. Im mittlerweile 9. Band seiner Buchreihe »In almost every picture« stellt er uns ein amerikanisches Ehepaar vor, dem es im Laufe vieler Jahre nie gelungen ist, ein schönes Foto von seinem schwarzen Hund zu machen. Zu sehen ist immer nur sein Umriss, manchmal auch nur ein schwarzes Loch, wie das Magazin der Süddeutschen Zeitung mit eindrucksvoller Bildstrecke berichtet.



In almost every picture 9

Taschenbuch, 112 Seiten
ISBN: 978-9070478315
26 Euro

timecaps.net (3): Zwei Profis mit dem Auge für außergewöhnliche historische Alltagsfotografie

Stocken, 9315 Neukirch, Schweiz: Am schönen Bodensee haben seit Herbst 2009 mehr als 100.000 verwaiste Alltagsfotografien eine neue Heimat gefunden, denn hier befindet sich seitdem die Zentrale der Bildagentur timecaps.net. Gegründet wurde sie von Jörg Hejkal und Christian Schneeberger und ich fand ihre Idee, »oft vor dem hausmüll geretteten zeitzeugen ein neues zuhause« zu geben, faszinierend, seit ich zum ersten Mal auf die Bilder aufmerksam geworden bin.

Von meiner zufälligen Begegnung mit den beiden engagierten timecaps.net-»Agenten« in der Kölner Philharmonie anlässlich der MusikTriennale und der VIP-Führung durch die dortige Ausstellung, habe ich auch bereits ausführlich berichtet. Dass ich es mit zwei absolut (Foto)-»Verrückten« zu tun haben musste, ahnte ich ja schon. Denn als ehemalige »Archivmaus« habe ich eine lebhafte Vorstellung davon, was es bedeutet, hunderttausend Fotos zu scannen, zu bearbeiten, zu verschlagworten, zu archivieren … Da muss die Begeisterung schon riesengroß und dauerhaft sein. Und genau dieser Enthusiasmus war bei unserer Begegnung auch zu spüren.

Deshalb wollte ich unbedingt noch mehr über die Hintergründe von timecaps.net wissen. Wie kamen die beiden auf die Idee, ein »fotografisches Gedächtnis« aus Alltagsfotografien anzulegen? Woher stammen die Bilder und nach welchen Kriterien werden sie archiviert? Christian Schneeberger hat es mir verraten und mir auf meine Fragen spannende Antworten gegeben:

Wann ist die Idee zu timecaps.net geboren worden?

Christian Schneeberger: Die Idee zu timecaps haben wir vor ungefähr drei Jahren schon ausgebrütet, haben sehr viel recherchiert, gesammelt, kategorisiert …  Nachdem die rechtlichen Grundsätze für die Firmengründung geklärt waren, haben wir im August 2009 timecaps gegründet und sind im September, begleitet von einer Ausstellung während des art forum berlin, online gegangen.

Seither bemühen wir uns, möglichst schnell einen großen Bildbestand online zu veröffentlichen, was aber nicht so einfach ist, da unsere Sammlungen schon mehr als 100.000 Fotos umfassen und wir speziell auf die Verschlagwortung große Aufmerksamkeit legen.

Nach welchen Kriterien katalogisiert ihr die Bilder denn?

cs: Wir habe unsere Sammlungen in 26 Kategorien aufgeteilt. Es liegt uns sehr viel daran, jedes Bild in seinem Entstehungskontext zu erfassen. Jedem Bild wird sein Ursprungsland und die Dekade, in dem es entstanden ist, zugeordnet. Neben dem anonymen Bildbestand unterscheiden wir uns damit grundlegend von allen anderen Agenturen.

Wie habt ihr angefangen bzw. wie seid ihr an die Bilder gekommen?

cs: Wie und wann es angefangen hat, weiß ich eigentlich gar nicht mehr, außer dass ich seit rund 10 Jahren sehr intensiv anonyme Fotos, sogenannte vernacular photography, sammle. Die Fotos stammen in erster Linie von Flohmärkten und Auktionen, aber auch von Privatpersonen, die mir ihren Fotonachlass vermacht haben.

Besonders wenn die Fotos kistenweise angekauft werden, ist das Ganze immer spannend. Ich weiß gar nicht wo anfangen … Das sind Schachteln voller unglaublicher und unbeschreiblicher Überraschungen: Von der strippenden Mutti bis hin zu Hassfotos eifersüchtiger Menschen, die ihren ungeliebten Bekannten die Augen oder Gesichter auf den Bildern ausgekratzt haben.

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timecaps.net (2): Bildagentur und »fotografisches Gedächtnis«

Auf die MusikTriennale 2010 habe ich mich schon gefreut, seit ich im Februar das wunderbare Programmheft in die Finger bekam. Ich war ja nicht nur vom Inhalt, sondern vor allem von der Gestaltung und den vielen herrlichen Fotos von timecaps.net, der Bildagentur für gefundene und historische Alltagsfotografie, so begeistert, dass ich gleich einen Blogbeitrag darüber geschrieben habe. Ebenso gespannt war ich natürlich auch auf das Eröffnungskonzert am 24. April, das mir, wie sich herausstellen sollte, ein Wechselbad der Gefühle bescherte.

Flyer timecaps.netZuvor schlenderte ich aber am Eröffnungsabend durch das Foyer der Kölner Philharmonie und entdeckte – nicht gerade prominent positioniert – ein paar weiße Stellwände an deren Front ich das timecaps.net-Logo entdeckte. Kaum hatte ich einen neugierigen Blick auf die ersten der dort ausgestellten Bilder geworfen, drückte mir auch schon jemand mit strahlendem Lächeln einen Flyer (s. o.) in die Hand. Auf meine Frage, ob er etwas mit der Agentur zu tun hätte, stellte er sich als einer der Inhaber, Christian Schneeberger, vor. Woraufhin ich ihm verriet, dass ich ja schon über timecaps.net gebloggt hätte.

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